Seit 15 Jahren verfolgt der Deutsche Verkehrssicherheitsrat e. V. gemeinsam mit 25 weiteren europäischen Ländern ein ehrgeiziges Vorhaben im europäischen Straßenverkehr: die Vision Zero. Ziel ist es, die Anzahl der Toten und Schwerverletzten im Straßenverkehr bis zum Jahr 2050 auf null zu reduzieren. Großes Potential steckt dabei in der Automatisierung des Fahrens, wie Notbremsassistenten bereits gezeigt haben. Auf diese Weise konnte bereits eine Vielzahl an Verkehrsunfällen verhindert werden. Dennoch können Unfälle trotz steigendem Automatisierungslevel nicht vermieden werden, etwa bei verdeckten Objekten oder gestörten Umfeldsensoren. Um in solchen Situationen den bestmöglichen Schutz aller Verkehrsteilnehmer sicherstellen zu können, sollen zukünftig Pre-Crash Systeme zum Einsatz kommen. Diese Systeme aktivieren Schutzsysteme, wie beispielsweise Airbags zum Schutz der Fahrzeuginsassen, bereits Millisekunden bevor der Unfall passiert. Von Bedeutung ist es, Fehlauslösung unbedingt zu vermeiden. Fälschlicherweise ausgelöste Airbags könnten die Insassen verletzen und auch dazu führen, dass der Fahrer die Kontrolle über das Fahrzeug verliert und aus einer eigentlich ungefährlichen Situation eine lebensbedrohliche Lage entsteht. Mit Hilfe einer Trajektorien- und Unfallschwereschätzung, basierend auf der Umfeldwahrnehmung der vorausschauenden Sensorik, kann prädiziert werden, ob und wann ein Unfall stattfinden und wie schwer dieser sein wird. Damit lassen sich durch eine frühzeitige Aktivierung von Schutzsystemen Unfallfolgen mindern. Zu diesem Zweck forschen die Mitarbeiter des Instituts C-ISAFE an Methoden, mit denen die Unfallkonstellation einschließlich der Unfallschwere auf die Insassen approximiert werden kann. Mit Hilfe von sowohl physikalischen als auch KI-basierten Methoden prädizieren die Forscherinnen und Forscher unfallrelevante Parameter wie die Kollisionsgeschwindigkeit und leiten daraus die Belastungen auf den Kopf oder Oberkörper der verunfallten Personen ab. Die so entwickelten Methoden werden anschließend mit realen Crashversuchen in der C-ISAFE eigenen Versuchshalle verifiziert.
Unvermeidbarkeit von Kollisionen & Schwere eines Unfalls
Prädiktion der Crashkonstellation
Die Detektion der Unvermeidbarkeit von Unfällen in kritischen Verkehrssituationen ist ein Schlüsselelement für integrale Fahrzeugsicherheits- und Pre-Crash Systeme. Für Fahrzeuge und Objekte, mit denen es zu einer Kollision kommen kann, werden Bewegungshypothesen aufgestellt, die auf physikalischen Bewegungsmodellen basieren und mit den Objektinformationen, z. B. Position und Geschwindigkeit, aus dem Umfeldmodell der Sensoren parametriert werden. Alle Kombinationen der so errechneten, physikalisch möglichen Bewegungstrajektorien für mögliche Kollisionsobjekte und das Egofahrzeug werden auf Kollisionsereignisse analysiert. So können Unfälle bereits einige Zehntelsekunden vor der eigentlichen Kollision als unvermeidbar erkannt werden.
Das Institut C-ISAFE beschäftigt sich gezielt mit der Frage, wie die Unvermeidbarkeit einer Kollision zuverlässig und möglichst früh erkannt werden kann und welche Einflussfaktoren auf die Prädiktionsgenauigkeit existieren. Dazu werden mögliche Bewegungstrajektorien für alle Objekte modelliert, sodass die tatsächliche Bewegung sowie mögliche unfallvermeidende Ausweichbewegungen bestmöglich prädiziert werden. Da Fehlauslösungen von irreversiblen Elementen der Passiven Sicherheit unbedingt zu vermeiden sind, bestehen hier starke Anforderungen an eine valide und robuste Detektion der Unvermeidbarkeit und Prädiktion der Unfallkonstellation. Dabei stellen die zur Verfügung stehenden Informationen aus der Sensorik aufgrund von Messungenauigkeiten, limitierten Abtastraten und der geringen verfügbaren Zeit vor der Kollision zusätzliche Herausforderungen dar.
Crashschwereschätzung
Um die Sicherheit beim autonomen Fahren auf das nächste Level zu heben, ist eine Aktivierung von irreversiblen Sicherheitssystemen wenige Millisekunden vor dem Unfall unabdingbar. Ausschlaggebend hierfür ist die zu erwartende Schwere des Unfalls. Sie kann entweder mit der Belastung auf den menschlichen Körper oder kinematischen Parametern wie der durchschnittlichen Beschleunigung während des Unfalls erfolgen. Hierbei erfüllt die vorausschauende Schätzung der Crashschwere zwei fundamentale Funktionen.
Auf der einen Seite entscheidet sie, ob in dem bevorstehenden Crashevent Airbags benötigt werden. Das Auslösen von irreversiblen Rückhaltemitteln in der Pre-Crash Phase ist mit einem hohen Risiko behaftet, da das Fahrzeug unkontrollierbar werden kann. Infolgedessen kann eine Fehlauslösung zu schweren Verletzungen der Insassen führen und muss daher möglichst vermieden werden. Dies geht nur mit einer vorherigen Abschätzung der Crashschwere.
Auf der anderen Seite muss bei einer Auslösung auch der genaue Zündzeitpunkt des Airbags festgelegt werden, um die höchste Schutzwirkung für den Insassen zu gewährleisten. Sowohl konventionelle als auch zukünftige Airbagsysteme benötigen aus diesem Grund Methoden, mit denen der Zündzeitpunkt vorausschauend auf das detektierte Crashszenario angepasst werden kann. Da der Zeitpunkt neben dem Szenario auch wesentlich von der Schwere abhängt, ist auch hier eine Schätzung unabdingbar.
Daher forscht C-ISAFE an physikalischen und KI-gestützten Methoden, die eine zuverlässige und robuste Unfallschwereschätzung auf Basis der Umfeldsensordaten ermöglicht und gleichzeitig die Bedingungen für Pre-Crash Anwendungen erfüllt. Diese Algorithmen werden anhand echter Crashtestdaten validiert.
Kontaktbasierter Validierungssensor
Einer der wichtigsten Schritte zur Aktivierung jeder Aktorik für Fahrzeugsicherheitssysteme basierend auf vorausschauender Sensorik ist eine robuste Validierung. Ein Zwischenziel auf dem Weg zur vollständig vorausschauenden Airbagaktivierung ist eine kontaktbasierte Validierung zum Kontaktzeitpunkt t0. Dieser Zwischenschritt gewährleistet zudem einen reibungslosen Übergang zur Aktivierung von Sicherheitsaktoren vor t0.
Eine kontaktbasierte Validierung gibt dem System Stabilität gegenüber Störeinflüssen durch beispielsweise Witterung. Zusätzlich kann eine Falschauslösung aufgrund anderer Sensorproblematiken vermieden werden. Leichte und weiche Objekte mit einem großen Radarquerschnitt können etwa ein rein radar-basiertes System täuschen, eine Fehlauslösung wird aber durch die nachfolgende Validierung abgefangen. So können Schäden an den Insassen und anderen Verkehrsteilnehmern durch Fehlauslösungen von passiven Rückhaltemitteln vermieden werden. Darüber hinaus können Informationen aus dem Validierungssensor extrahiert werden, um das Sicherheitslevel weiter zu steigern. Kurz nach t0 misst der Validierungssensor die Position und Überdeckung des Aufpralls. Diese Werte werden daraufhin mit den Prädiktionen aus den vorausschauenden Sensorsystemen verglichen und validieren auf diese Weise die Umfeldsensoren.
Ausgewählte Publikationen
- A.-L. Schlamp, K. Schneider, R. Lugner, G. J. Sequeira, and T. Brandmeier, “Approximation of the overlap for integral safety systems,” in Fahrzeugsicherheit: Auf dem Weg zur Fahrzeugsicherheit 2030, 2022, pp. 407-418, doi: 10.51202/9783181023877-407.
- R. Krause, R. Lugner, M. Inderst, K. Schneider, G. J. Sequeira, and T. Brandmeier, "Interface and Optimizations for Crash Severity Estimation and Inevitability Modelling in Pre-Crash Safety Systems," in Proceedings of the FISITA 2021 World Congress, 2021.
- G. J. Sequeira, R. Lugner, T. Brandmeier, E. Elnagdy, G. Danapal, and U. Jumar, “Investigation of Different Classification Algorithms for Predicting Occupant Injury Criterion to Decide the Required Restraint Strategy,” in 2021 IEEE International Intelligent Transportation Systems Conference (ITSC), 2021 Indianapolis, IN, USA, pp. 204-210, doi: 10.1109/ITSC48978.2021.9564868.
- K. Schneider, R. Lugner, M. Inderst, T. Weigl, and T. Brandmeier, “Verification of Crash Severity Estimation Algorithm for Autonomous Driving Using Real Crash Data,” in Proceedings of the 2020 4th International Conference on Vision, Image and Signal Processing (ICVISP 2020), Bangkok, Thailand, 2021, pp. 1-6, doi: 10.1145/3448823.3448850.
- G. J. Sequeira, A. Patel, S. Afraj, R. Lugner, and T. Brandmeier, “FEM-based Methodology for Crash Severity Estimation in Frontal Crash Scenarios,” IOP Conference Series: Materials Science and Engineering, vol. 2020, no. 831, 2020, The 7th International Conference on Mechanical, Automotive and Materials Engineering 8-10 December, Melbourne, Australia, doi: 10.1088/1757-899X/831/1/012019.
- K. Schneider, M. Inderst, and T. Brandmeier, “Hybrid Model Based Pre-Crash Severity Estimation for Automated Driving,” in 2020 IEEE 3rd Connected and Automated Vehicles Symposium (CAVS), Victoria, BC, Canada, 2020, pp. 1-6, doi: 10.1109/CAVS51000.2020.9334670.
- R. Lugner, D. Vriesman, M. Inderst, G. J. Sequeira, N. Pasupuleti, A. Zimmer, and T. Brandmeier, “Evaluation of Sensor Tolerances and Inevitability for Pre-Crash Safety Systems in Real Case Scenarios,” in 2020 IEEE 3rd Connected and Automated Vehicles Symposium (CAVS), Victoria, BC, Canada, 2020, pp. 1-6, doi: 10.1109/CAVS51000.2020.9334578.
- R. Lugner, M. Inderst, G. J. Sequeira, K. Schneider, and T. Brandmeier, “Collision Prediction for Irreversible Pre-Crash Safety Measures,” in FISITA Web Congress 2020.
- D. Steinhauser, P. HeId, A. Kamann, A. Koch, and T. Brandmeier, "Micro-Doppler Extraction of Pedestrian Limbs for High Resolution Automotive Radar," in 2019 IEEE Intelligent Vehicles Symposium (IV), Paris, France, 2019, pp. 764-769, doi: 10.1109/IVS.2019.8813850.
- K. Schneider, et. al., “Crash severity estimation in oblique crashes for integrated safety systems,” in Proceedings of the 5th International Symposium on Future Active Safety Technology toward Zero Accidents (FAST-zero’19), Blacksburg, Virgina, USA, doi: 10.1243/09544070D14904.
- G. J. Sequeira, R. Lugner, U. Jumar, and T. Brandmeier, “A validation sensor based on carbon-fiber-reinforced plastic for early activation of automotive occupant restraint systems,” Journal of Sensors and Sensor Systems, vol. 8, pp. 19-35, doi: 10.5194/jsss-8-19-2019.
- P. Held, D. Steinhauser, A. Kamann, T. Holdgrün, I. Doric, A. Koch, and T. Brandmeier, “Radar-Based Analysis of Pedestrian Micro-Doppler Signatures Using Motion Capture Sensors,” in 2018 IEEE Intelligent Vehicles Symposium (IV), Changshu, China, 2018, pp. 787-793, doi: 10.1109/IVS.2018.8500656.
Ansprechpartner
Prof. Dr.-Ing. Thomas Brandmeier
Tel.: +49 841 9348-3840
Raum: H023
E-Mail: Thomas.Brandmeier@thi.de
Robert Lugner, M.Sc.
Tel.: +49 841 9348-3340
Raum: H024
E-Mail: Robert.Lugner@carissma.eu